JUK 2015

mehr sehen

Angesichts des Zweigs vor dem Himmel:
gewiss erwarte ich keine Gotteserscheinung.
Aber ich erwarte doch mehr zu sehen,
als ich im Augenblick sehen kann.

Dieser Text Peter Handkes ist ein aufs äußerste reduzierter Vierzeiler, der nach Art eines Haikus in jeder Zeile eine neue gedankliche Wendung vollzieht und in der Summe der vier Zeilen nicht zu einer Erkenntnis oder Einsicht, sondern zu einer Frage führt. In der minimalistischen Aussage der ersten Zeile erfahren wir nicht, was für ein Zweig Peter Handke so ganz offensichtlich zu tiefem Nachdenken bringt, ob ein Zweig dunkelgrüner Blätter mit Zitronen- oder Apfelsinenblüten, ein Mandelblütenzweig oder frisch im Frühling entrolltes Buchengrün vor Himmelblau. Wesentlich ist, ihn nicht nur visuell wahrzunehmen, sondern sich einer existenziellen Frage zu öffnen, auf die auch Handke keine Antwort weiß und auf die er auch keine Antwort geben will. Der Gedanke an göttliche Schöpfung ist Handke zu abgegriffen, ohne dass er ihn gänzlich ausschließt. In unserem heutigen Wissen über die Selbstorganisation der Zellen läge in einem solchen Deutungsversuch zugleich eine Anmaßung, der Handke gar nicht erst unterliegt. Aber seine Beobachtung geht in den beiden Schlusszeilen über das mit den Augen Wahrnehmbare hinaus, er hält die Frage offen, nicht nur für sich, sondern auch für andere, und es bleibt uns überlassen, eine Antwort selbst zu finden oder uns in die Unbeantwortbarkeit der Frage zu fügen.

So weit mit ähnlichen Worten, was ich als eigene Gedanken beim wiederholten Vorlesen auf unserer Wanderung hinzufügte. Es ließe sich ergänzen, dass die Selbstorganisation der Zellen sich durchaus nicht immer unseren ästhetischen menschlichen Maßstäben anpasst; es ist ihr sozusagen egal, wie wir sie finden: über die „Schönheit“ von Hyänen, Flusspferden, manchen Affenarten, von Spinnen oder Asseln diskutiert niemand, und schon gar nicht über Kälber mit zwei Köpfen. Der Vierzeiler Handkes könnte uns deshalb auch gewahr werden lassen, dass unser menschlicher Maßstab willkürlich ist. Aber als Faktum bleibt, dass die Erde belebt ist und eine Vielfalt besitzt, die wir als Menschheit gefährden, obgleich sie, soweit wir bis jetzt wissen, im Weltall einmalig zu sein scheint. Das Staunen – und Fragen – bleibt dasselbe.

In den Zusammenhang gehört auch ein Gedicht von Heinrich Heine:

Fragen

Am Meer, am wüsten nächtlichen Meer
Steht ein Jüngling-Mann,
Die Brust voll Wehmut, das Haupt voll Zweifel,
Und mit düstern Lippen fragt er die Wogen:

„O löst mir das Rätsel des Lebens,
Das qualvoll uralte Rätsel,
Worüber schon manche Häupter gegrübelt,
Häupter in Hieroglyphenmützen,
Häupter in Turban und schwarzem Barett,
Perückenhäupter und tausend andre
Arme, schwitzende Menschenhäupter –
Sagt mir, was bedeutet der Mensch?
Woher ist er kommen? Wo geht er hin?
Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?“

Es murmeln die Wogen ihr ew’ges Gemurmel,
Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken,
Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt,
Und ein Narr wartet auf Antwort