Äthiopien

Simien Mountains über den Jahreswechsel 2015/2016

Subsahara-Afrika! Es ist diesmal nicht nur die erste Wüstenwanderer-Reise ohne Wüste, sondern auch die erste südlich der Sahara, ins „richtige“ Afrika – und das ist tatsächlich ein spürbarer Unterschied. Nicht nur im Blick auf die grandiose Landschaft, sondern vor allem auf die Kultur: mehrheitlich christlich, und das auf die ganz eigene Weise der äthiopischen Orthodoxie, mit der Geschichte einer alten Hochkultur, die (fast) keine europäische Kolonialisierung ertragen musste, mit einer uns ganz fremden Tradition und Lebensweise und auch dem, was wir schnell (zu schnell?!) Aberglauben nennen …

Was diese Reise noch so ganz anders macht, ist natürlich der Blick auf ein sehr armes Land. Das allererste, was mir aufgefallen ist, sind erstaunliche Baugerüste (davon wird es ein paar Zeugnisse in der Bildergalerie geben): Aus geschätzt 5-10 m langen Eukalyptusholz-Stangen auf oft abenteuerliche Weise zusammengebunden, beängstigend schief und nur an den Stellen mit Planken belegt, wo gerade gearbeitet wird – und das bis in schwindelnde Höhen hinauf. Hier wird gebaut, und was da entsteht, zumindest in Addis Abeba, sind moderne Gebäude, die vom Bestreben des Landes erzählen, Anschluss zu gewinnen. Aber wie es gebaut wird, das zeugt dann eben doch vom Mangel, von Improvisationsgabe und ganz anderen Bedingungen als denen, die wir für so selbstverständlich halten. Ganz zu schweigen von Straßen, Schulen, Wohnbedingungen oder der Gesundheitsversorgung … aber der Reihe nach.

Unsere beiden ersten Tage spielen in der Stadt – in der Hauptstadt Addis Abeba und der Provinzmetropole Gondar im Nordwesten. Sie dienen auch dem Akklimatisieren an die Höhe, damit die uns beim Wandern nicht aus den Schuhen haut – immerhin liegt Addis auf rund 2400 m, der Mount Entoto bringt es schon auf 3000 m ü.NN. Aber diese beiden Städte haben auch Interessantes vorzuzeigen – an Sehenswürdigkeiten und an Eindrücken, wie hier das Leben so tickt. Beeindruckend unter der ersten Kategorie: die Georgskathedrale mit den Grablegen von Kaiser Haile Selassie und seiner Frau und ein Besuch im Nationalmuseum bei Lucy, einer unserer berühmtesten Vorfahrinnen (gut 3 Millionen Jahre alt), und Ardi, ihrer weniger bekannten, aber gut 1 Million Jahre älteren Schwester, die beide im Afar-Dreieck im Nordosten gefunden wurden.

Und die Eindrücke: das Leben in den Straßen, ein Beerdigungszug (fast) ganz in weiß und mit einer Unmenge bunter Sonnenschirme, jede Menge Weihnachtsbäume aus grünen Flaschenputzern (die haben mich so begeistert, dass ich fast einen exportiert hätte!), elende Hütten neben schicken Hochhäusern, das kreative Verkehrsgewühl ohne das aus den arabischen Ländern gewohnte Hupen und Schimpfen, Mittagessen im ältesten Hotel der Stadt als erste Kontaktaufnahme mit dem äthiopischen Essen … In Gondar dann der Gemp und die wunderschöne Kirche Debre Berhan Selassie mit den Wandmalereien aus dem 17. Jahrhundert, die bei mir sofort Erinnerungen an eines der ersten Hungertücher aus den 70er Jahren wecken. Aus beiden Städten nehmen wir auch die Erinnerung an begabte, engagierte Guides mit und ein Wort, dass wie kein anderes einfängt, wie die Leute hier sind: tiefenentspannt.

Und dann geht es in die Berge! Lang erwartet, dieser Tag, an dem wir mit dem Bus über eine erstaunlich gut ausgebaute Straße nach Debark fahren – danach heißt es (wie es unser lokaler Guide Tesfa nennt): african massage (was meint: Fahren auf der Schotterpiste). In Debark stößt unser zweiter Guide Geech zu uns und die drei Kalaschnikows, jene Männer, die uns der Staat zu unserer Sicherheit ausgerüstet mit beeindruckenden Flinten zur Seite stellt. Weiter geht es noch ein Stück in die Berge, dann kommt der immer wieder berührende Moment, den der Dreisatz markiert: Ich gehe los. Wir gehen miteinander. Es wird gehen.

Im Simien Nationalpark, der für die kommenden 6 Tage unsere Wege bestimmen wird, gibt es Camps für die Wanderer – was angesichts der damit verbundenen Lasten für die Natur ohne Frage Sinn macht, aber für die geübten Wüstenwanderer unter uns erst einmal gewöhnungsbedürftig ist. Wir sind nicht allein, natürlich gibt es andere Wanderer und Gruppen, so ist das eben. Je zwei Nächte verbringen wir in diesen Camps: Sankaber (3247 m), Geech (3527 m) und Chenek (3631 m) – und es gilt: je höher, um so kälter. Die Tage sind mit 25 - 30° sehr angenehm, aber sobald die Sonne weg ist, wird es lausekalt. Schon durchgefroren nach dem Abendessen, braucht es da ein Lagerfeuer in der Kochhütte (inklusive drohender Kohlenmonoxidvergiftung und Gesangsrunde auf Deutsch und Amharisch - dies ist die sangesfreudigste Wüstenwanderertruppe aller Zeiten!) und einen Schnaps, um vor dem Schlafengehen nochmal richtig warm zu werden. Dennoch finden sich fast immer ein paar Unerschrockene, die draußen schlafen – zu verlockend ist der wieder einmal grandiose Sternenhimmel.

Überhaupt die Natur – so etwas hab ich noch nicht gesehen. Das Wort vom Dach der Welt kommt da von ganz allein in den Sinn, so hoch erheben sich die Berge über das Umland, so tief sind die Täler eingeschnitten, mit Wasserfällen und teilweise gigantischen Abbrüchen, Hunderte von Metern geht’s geradeaus nach unten, schroff und wild. Dann wieder sanfte Hänge, die an die schottischen Highlands erinnern. Die Natur, das sind aber auch Pflanzen – Erikabäume (!) mit Flechten wie im Märchenwald, eindrucksvolle Riesen-Lobelien und der „Zahnputzbaum“ - und natürlich, die Tiere! Keine Rede ist von Schlangen oder Skorpionen, dafür aber: jede Menge Affen und Erzraben, Lämmergeier, Adler, Antilopen, die vom Aussterben bedrohten endemischen Wölfe und Steinböcke. Die einen selten und dadurch sofort jede Aufmerksamkeit bannend, wenn sie auftauchen, die anderen, die nur in den Simien Mountains beheimateten Jelada-Paviane in großen Mengen. Was eine eigene Form von Gebanntsein hervorruft – da läuft man mitten durch so eine Herde und beobachtet, was sie so tun in ihrem Affendasein: fressen, sich gegenseitig lausen, schnell mal einen Quickie zwischendurch, die Kinder beaufsichtigen, Streit schlichten … und wir fragen uns: wer ist hier der Affe? Auch Gottesdienst halte ich so: inmitten einer – als solche erkennbare – Affenherde, das ist auch eine Premiere in meinem pastoralen Dasein.

Die Höhe ist natürlich eine Herausforderung. An Tag 4 knacken wir, auch das für die meisten eine Premiere, die 4000er-Marke und genießen unser Mittagsvesper auf dem Gipfel des Mount Inatiye (4040 m), flankiert von drei von uns völlig unbeeindruckten Rindern. Am Tag darauf besteigt der größte Teil der Gruppe den mit 4436 m zweithöchsten Berg Äthiopiens, Mount Bwahit, der sich leider an diesem Tag in Wolken hüllt. Das geht nur ganz, ganz langsam – was aber genauso für den Weg vom Schlaf- zum Essenszelt gilt: auch die paar Höhenmeter gilt es in aller Ruhe anzugehen, sonst rast sofort die Pumpe. Ein paar Tage braucht es, bis jede_r den eigenen Schritt gefunden hat, aber dann geht es (meist) ganz gut.

Der letzte Trekkingtag hat dann noch einmal einen eigenen Charakter – wir verbringen ihn weniger mit Gehen als mit Lernen. Zuerst ist ein Besuch im Dorf Argin angesagt, das mit japanischer Unterstützung ein interessantes Projekt verfolgt: Hier können Besucher einen Einblick in das Leben auf dem Land gewinnen – und den Bewohnern ermöglicht es, ihre kargen Möglichkeiten finanziell aufzubessern, ihre traditionelle Lebensweise beibehalten zu können und nicht in die Stadt abwandern zu müssen. In kleinen Gruppen sind wir in verschiedene Tukuls eingeladen – so heißen die aus Holz, Lehm und Stroh erbauten Rundhütten, deren Grundstruktur nicht anders ist als vor ein paar Jahrhunderten in europäischen Dörfern. Die Hausherrinnen, die hier „in echt“ leben (dies ist also kein Museumsdorf!), zeigen uns, wie sie Talla brauen, Injera backen und natürlich die berühmte Kaffeezeremonie. Sie erzählen von ihren Familien und wollen auch wissen, wie das bei uns so ist: Woher bekommt ihr das Mehl, mit dem ihr euer Brot backt? Wie lange dauert es, bis euer Bier fertig gebraut ist? Was tut ihr, um euren Kaffee zu rösten? Wie eintönig immer wieder unsere Antwort: wir gehen halt in den Laden und kaufen es …

Und noch eins haben wir gelernt: Verlässt der Gast das Haus, segnet er die Gastgeberin und ihre Familie, das Haus, das Vieh und die Ernte, das Dorf und das Land - denn "nur in einem friedlichen Land können wir in Frieden leben". Dieser Pflicht kommt der Älteste der Gäste nach, das ist bei uns einer mit einer schwäbischen Landwirtschaft im Rücken, und diese Nähe über die Kulturen hinweg ist spürbar. Eine innere Verbindung schlagen wir zu Reinhard Meys "Gute Nacht, Freunde", allabendlich am Lagerfeuer gesungen. Wie wäre unsere Welt, wenn wir Menschen uns alle als Gesegnete und Segensbedürftige verstehen könnten, bezogen auf eine größere Macht, die dieses Leben hält? Könnten wir uns weiterhin gegenseitig die Köpfe einschlagen?

Zuletzt, in Amaras, besuchen wir eine Schule, auch das geht überraschend easy. Bei uns unvorstellbar: einfach so, ohne Vorankündigung, mit 20 Leuten auf dem Schulhof stehen, da ein paar Lehrer beim Volleyball treffen und fragen, ob wir einen Besuch machen dürfen, mal in ein Klassenzimmer schauen, erfahren, wie das hier läuft … ja aber gern, most welcome! So treffen wir eine Grundschulklasse beim Lesenlernen – große Kinderaugen, die mageren Körper in wirklich nicht mehr als Lumpen, aber offen, freundlich, fröhlich, und das nicht nur beim anschließenden Faul-Ei-Spiel im Hof. Ob das Spiel wohl auch hier zum Aufwärmen dient, wie ich es mal an einem Wintertag in der palästinensischen Westbank erlebt habe? Nicht undenkbar. Wie leuchten die Augen, als den Kindern klar wird, dass wir ihnen einen Stapel Hefte, Stifte und Spitzer mitgebracht haben! In dieser Klasse gibt es auch schon 4jährige – der reguläre Schulbesuch beginnt wie bei uns mit 6. Sie kommen als Geschwister mit: Hier sind sie immerhin nicht sich selbst überlassen und haben vier Wände und ein Dach um sich herum … Die älteren Schüler haben heute keinen Nachmittagsunterricht – und werden vielleicht auch zu Hause gebraucht, es ist Erntezeit und überall sehen wir die Leute beim Dreschen und Worfeln. Das schönste Gebäude der Schule ist die noch sehr übersichtlich ausgestattete Bibliothek. Zum Lesen und Lernen eignet sich alles, auch das Buch aus der Abteilung „Jüngere europäische Geschichte“ über das Schicksal von Lady Di … An der Wand hängt ein handgemaltes Plakat: „Education is the weapon of poverty!“ Hoffentlich kommen viele Kinder in diesen Genuss. Die aus dem Dorf Argin, nur wenige Kilometer entfernt, jedenfalls nicht, wie uns auf Nachfrage bestätigt wurde. Diese Begegnungen beschäftigen mich nachhaltig. Wie leicht wäre es doch, etwas zu verändern – und wie schwer ist es.

Die Rückreise gestaltet sich etwas aufregend, und wir sind einmal mehr froh, dass unser lokaler Agent Molla (FKLM Tours) und seine Leute zuverlässig und hilfreich an unserer Seite sind. Bedauerlicherweise können wir so den noch für den letzten Nachmittag geplanten Besuch im Hamlin Fistula Hospital in Addis Abeba nicht realisieren, aber am langen Ende kommen alle wohlbehalten und pünktlich wieder in Frankfurt an, was, wie wir jetzt wissen, auch nicht selbstverständlich ist. Überhaupt: nichts ist selbstverständlich, alles ist Geschenk oder auch mal Zumutung.

Nach dieser Reise werde ich noch ein Weilchen mit dem Nachhall in mir beschäftigt sein, da bin ich sicher, und das gilt sicher nicht nur für mich. Und: nach der Reise ist vor der Reise – im Frühjahr 2017 soll es weitergehen mit den Wüstenwanderern!

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